Das neue Schuljahr fühlt sich so an als wären wir alle aus unseren Höhlen getreten, hätten uns kurz geschüttelt und geschaut, wo unsere Horde geblieben ist. Sie ist da und das ist ein gutes Gefühl. Im Haus ist ein Aufatmen zu spüren, es hat alle erfasst. Morgens treffen sich altersgemischt unsere Schüler*innengruppen im Speiseraum, unsere Eltern nutzen die Möglichkeit jetzt im Spätsommer mit ihren Kindern morgens noch auf der Terrasse zu frühstücken. Nachmittags toben die Kinder quer durch die Klassen über den Hof und wir treffen uns im Sandkasten. Es ist einfach schön, hier sein zu dürfen, es bedeutet eine Rückkehr zu etwas, das mal sehr langweilig klang – zur Normalität, natürlich unter Hinzunahme unserer Erkenntnisse und Erfahrungen aus den letzten anderthalb Jahren. Und so stellen wir fest, dass diese Zeit jetzt auch bedeutet, Scherben aufzusammeln. Und der Prozess dauert an. Über einen langen Zeitraum konnten wir uns nicht spontan, sondern ausschließlich verabredet und unter Einhaltung von Abstandsregeln treffen. Wer generell eher unsicher durch das Leben geht, fühlte diesen Zustand in dieser besonderen Zeit noch stärker. Es war allerdings auch eine große Chance, andere, ungewohnte Perspektiven einzunehmen und dadurch den Kindern in dieser herausfordernden Zeit ein Lernen an unserem Verhalten zu ermöglichen. Laut Hobson (2002) lernen Kinder von ihren Eltern die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, also Empathie.
Auch Maria Montessori beschreibt, wie Kinder sich an den Erwachsenen orientieren, an ihnen ihr Denken und Handeln ausrichten. Sie spricht von der „Schaukraft der Liebe“, durch die das Kind erst zur Selbstverwirklichung finden kann. Hoffen wir mal, unsere Strahlkraft war groß genug!
Scherben aufzusammeln, bedeutet auch, einen Umgang mit Fehlentscheidungen zu finden, denn es hat sie gegeben, innerhalb der Gesellschaft, in den Betreuungseinrichtungen, in unseren Familien.
„Was auch immer in der Schule von Lehrern, Kindern oder anderen getan wird, immer treten Fehler auf.“Kinder an Montessorischulen lernen, dass man Fehler machen darf, sich ihnen widmen und sie meistens sogar selbst korrigieren kann. Das fördert im besten Sinne das (Selbst-)Bewusstsein. „Die Erkenntnis, dass wir einen Fehler begehen und ihn ohne Hilfe sehen und kontrollieren können, ist eine der größten Errungenschaften der psychischen Freiheit“, denn wenn „es etwas gibt, das den Charakter unentschlossen macht, dann ist es die Tatsache, etwas nicht ohne fremde Hilfe kontrollieren zu können. Daraus entspringt ein Minderwertigkeitsgefühl, das sich in einem Mangel an Selbstvertrauen auswirkt. Die Kontrolle des Fehlers wird zur Richtschnur.“
In unseren Tagungsmappen der ersten Elternwochenenden im Landweg liegt ein Text von Jacoby, Angst vor dem Falschmachen, aus dem Buch „Jenseits von Begabt und Unbegabt“. Wir haben anfänglich häufig diesen Text diskutiert, weil wir in den Anfangsjahren sehr vermitteln mussten, wie sich eine Schulkultur positiv verändert, in der wir nicht auf Fehlersuche gehen. In der individuellen Rückschau der Erwachsenen taucht die Tragik im Falschmachen meist im Kontext von Schule auf. Dabei war es doch wohl so, dass eine schlechte Note nicht den Lehrer aufgeregt hat, sondern die Eltern zu Hause. Und die Verletzung entstand vermutlich erst dadurch, wie im Weiteren mit der Fehlleistung umgegangen wurde. Maria Montessori sagt, dass das Versagen der Schule eher darin liege, dass sie uns gleichgültig gegenüber Fehlern gemacht hat. “In den normalen Schulen macht ein Schüler Fehler, ohne es zu wissen, unbewusst und mit Gleichgültigkeit, denn er muss ja nicht seine eigenen Fehler korrigieren, sondern das ist die Aufgabe des Lehrers. Wieweit ist dieses Vorgehen vom Bereich der Freiheit entfernt? Wenn ich nicht die Fähigkeit habe, meine Fehler zu kontrollieren, muss ich mich an jemand anderes wenden, der es möglicherweise nicht besser kann als ich. Viel wichtiger ist es, seine Fehler zu kennen und sie zu kontrollieren.“ Weil ein positiver Umgang mit eigenen Fehlleistungen eben auch dazu führt, dass die Fehler der anderen nicht mehr so bedeutend sind. Wir gehen nicht auf Fehlerjagd, wir vertrauen darauf, dass der Andere sich eigenverantwortlich darum kümmert. Wir hören auf, nach Perfektion streben. Maria Montessori beschreibt in ihren Texten, dass ein perfekter Mensch sich nicht mehr ändern könne. Wenn also zwei Perfekte aufeinandertreffen würden, dann doch nur, um sich zu streiten, weil es für sie keinen Weg zur Veränderung gibt, keinen, in dem sie voneinander lernen.
Für die Entwicklung einer toleranten Gesellschaft ist es von Bedeutung, dass Kinder uns Erwachsene in unserer Fehlerhaftigkeit und in unserer Fähigkeit zum Perspektivwechsel erleben. „Die von den Erwachsenen begangenen Fehler haben etwas Interessantes an sich, und die Kinder nehmen daran Anteil, aber mit Abstand. Es wird für sie ein Aspekt der Natur, und die Tatsache, dass sich alle irren könnten, erweckt in ihrem Herzen eine große Zuneigung. Es ist eine neue Sache für die Einheit zwischen Mutter und Kind.“ Montessori schreibt hier von den Müttern, weil Erziehung zu ihrer Zeit traditionell Aufgabe der Mütter war. Heute sind zum Glück die Familienkonstellationen so vielfältig, dass sich allein dadurch weitere Perspektiven eröffnen. Das Eingestehen von Fehlern ist auch eine große Sache für die Einheit zwischen Pädagog*innen und Kindern. „Die Fehler bringen uns näher und machen uns zu Freunden. Die Brüderlichkeit entsteht eher auf dem Weg der Fehler als auf dem der Perfektion.“
Dieser Text will nicht den Eindruck erwecken, dass an Schulen wie unseren keine Tests geschrieben werden, falsche Mathergebnisse nicht diskutiert würden, es geht im Bildungsprozess natürlich darum, Erkenntnis zu erlangen. Es geht hier auch nicht um Selbstüberschätzung, weil die eigene Rolle und Verantwortung nicht bewusst sind, diese Art von Selbstbewusstsein ist allen sehr unangenehm, außer dem, der es hat. Kinder sollen nicht Vollkommenheit erlangen, sondern die eigenen Möglichkeiten gut einschätzen können und dadurch die Fähigkeit erlangen, tatsächlich etwas leisten zu können, selbständig.
„Darin liegen Klugheit, Sicherheit und Erfahrung, sichere Hilfsmittel in Richtung auf die Vollkommenheit. Diese Sicherheit zu erreichen ist nicht so einfach, wie es man sich vorstellen könnte. Noch ist es leicht, den Weg der Vervollkommnung zu beschreiten. Jemanden zu erklären, er sei albern, mutig, gut oder schlecht, ist eine Art von Verrat. Das Kind muss sich selbst darüber klar werden, was es tut; und es ist nötig, ihm mit der Möglichkeit sich zu entwickeln, auch an die Hand zu geben, die eigenen Fehler zu kontrollieren.“
Zitate aus Maria Montessori „Das kreative Kind“, Herder Verlag Freiburg