Stell dir vor, weltweit gäbe es eine Einigung auf ein globales Konzept für moderne Schulbildung und kaum eine:r würde es mitbekommen. So geschehen am 9. November 2023, als die UNESCO-Generalkonferenz in Paris einstimmig die Empfehlung zur Bildung für Frieden, Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung verabschiedete1. Dieses Grundsatzpapier enthält nicht weniger als einen zwischen (fast) allen Staaten der Welt vereinbarten Kanon von Kompetenzen, die Bildung vermitteln soll. Es ist ein Fahrplan für Bildungspolitik im 21. Jahrhundert, mit Leitlinien für die Ausgestaltung von Bildungssystemen und -inhalten. Dabei baut das Dokument auf bestehenden Weltbildungsempfehlungen auf, aber es enthält doch einige bemerkenswerte Neuheiten. Die Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission Maria Böhmer bringt es so auf den Punkt: „… Bildung muss heute weit mehr leisten, als die Vermittlung von Wissen allein. Es geht um Kompetenzen, Haltung und Werte. Das Dokument ist ein Bekenntnis der Weltgemeinschaft zu individueller Entwicklung und Freiheit, kritischem Denken und globaler Verantwortung. Ein wachsender Teil der Weltbevölkerung lebt unter autoritären Regimen. Angesichts dieser Entwicklung ist der Konsens für eine Bildung, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt, ein wichtiger Schritt. ….“2 Das Individuum im Mittelpunkt seines Lernens! Maria Montessori hätte das mit großer Wahrscheinlichkeit gefallen. Wie wir im ersten Teil unseres Beitrages schilderten, nahm sie regen Anteil an der Entwicklung der Menschen- und besonders der Kinderrechte.
Aber was genau ist neu an der Empfehlung? Das ist gar nicht ohne weiteres herauszufinden, denn auch vier Monate nach der Verabschiedung liegt das Dokument noch nicht in deutscher Übersetzung vor. Und selbst wenn diese Hürde genommen ist, braucht es eine weitere Übersetzung der gewundenen Sprache der Diplomatie und des Konsenses in ein Praxiskonzept, und dann in gelebtes Lernen.
Schon der Titel der Empfehlung macht klar, welche großen Ziele Bildung überall auf der Welt verfolgen soll: Frieden, Menschenrechte und individuelle Grundrechte, internationale Verständigung und Kooperation. In der neuen Fassung sind nun die Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie die „Global Citizenship“ also die Herausbildung eines weltbürgerschaftlichen Bewusstseins, dazugekommen. Alle 194 in der UNESCO vertretenen Länder der Welt, also fast die ganze Welt, haben dies im Angesicht der neuen großen Herausforderungen an die Weltgemeinschaft gemeinsam beraten und beschlossen! Um diese großen Ziele anzusteuern, werden im Herzen der Empfehlung 12 Kernkompetenzen benannt. Dazu gehören unter anderem Befähigung zum kritischen und analytischen Denken, Entscheidungsfindung und Zusammenarbeit, Kreativität, Handlungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit. Aber auch Wahrnehmung von und respektvoller Umgang mit Diversität ebenso wie die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und -reflektion und das Verständnis der Verbindung und Zusammengehörigkeit aller Menschen sowie mit dem Planeten. Weiterhin stehen Fähigkeiten zur Konfliktlösung sowie Medienkompetenz auf der Liste. Dass die Zeiten, in denen bei Bildung an „Lesen, Schreiben, Rechnen“ gedacht wurde, vorbei sind, ist nichts Neues. Aber es darf schon überraschen, auf was für einen großen, umfassenden Bildungskanon sich die Länder der Welt hier in jahrelangen Vorverhandlungen verständigt haben. Ebenso bemerkenswert ist, dass sich alle Länder dazu bekennen, dass diese Bildung jedem Menschen zusteht.
Damit diese Bildungsziele nicht nur schöne Worthülsen bleiben, werden in der Empfehlung konkrete Handlungsfelder und Akteur:innen sowie deren Aufgaben benannt. Natürlich braucht es politischen Rückhalt und gesetzliche Grundlagen und passende, verlässliche Bildungsstrukturen. Die Lehrpläne und Curricula sollen darauf zugeschnitten werden, die 12 Kernkompetenzen zu fördern, und zwar auf allen Bildungsebenen vom Kindergarten über die Schule bis zur Berufsausbildung und Erwachsenenbildung. Uns interessierte dabei besonders die Rolle der primären Schulbildung. Sie ist klar benannt: Kinder sollen Wissen, Fähigkeiten und Werte vermittelt bekommen, die es erlauben, sich individuell zu entwickeln und die Kompetenzen zu erwerben, die es braucht, um ein aktives, gesundes, nachhaltiges und produktives Leben als autonome und demokratische Erwachsene zu führen. Legt man die Bildungsempfehlungen der UNESCO neben die pädagogischen Ideen Maria Montessoris in zeitgemäßer Ausdeutung, könnte der Eindruck entstehen, Schulen wie unsere sind nach dieser Empfehlung konzipiert. Das ist natürlich nicht so und es geht uns geht es auch nicht darum, „erledigt“-Häkchen zu setzen. Hierzulande ist der Diskurs über moderne Bildung im vollen Gange, auch wenn die neue UNESCO-Empfehlung noch gar nicht wahrgenommen wurde. Sie kann und wird Akteur:innen den Rücken stärken, die die Umsetzung alternativer Bildungsmodelle einfordern. Wir möchten wieder und wieder darauf hinweisen, dass die Montessori-Pädagogik für Kernforderungen moderner Bildung kluge Antworten bietet. Sie ist ein Weg, die von der UNESCO ausgerufenen Ziele zu erreichen. Auch deshalb, weil Maria Montessori die Rolle der neuen Lehrerin bereits beschrieben hat. In der UNESCO-Bildungsempfehlung wird ein ganzer Abschnitt der Rolle der Lehrer:innen und Lernbegleiter:innen gewidmet. Auf den Punkt gebracht sollen sie die neuen Bildungsziele nicht nur dank guter Ausbildung und beständiger Fortbildung vertreten können, sondern sie auch vorleben.
Statt weiter an den benannten Transformationsprozessen zu arbeiten, liegt im deutschsprachigen Raum der Fokus allerdings gerade auf einer ganz anderen, in Anbetracht der Größe der Herausforderungen höchst kleinlichen, Debatte. Ausgelöst wurde diese durch ein Buch, das eine „quellenbasierten Analyse der anthropologischen Grundlagen Maria Montessoris“ anbieten will. Die Autorin verfehlt dieses Ziel allerdings sehr weit, indem sie nicht nur die Ideen Maria Montessoris diskreditiert, sondern gleich auch noch jede:n, der oder die diese Ideen in ihrer oder seiner pädagogischen Arbeit nutzt. Die Autorin, die belehrend über Maria Montessori als „Kind ihrer Zeit“ schreibt, setzt dabei ganz auf die unguten Gepflogenheiten unserer Zeit: reißerische Thesen, einseitige unausgewogene Darstellung, populistische Aufmachung im wissenschaftlichen Gewand. In einer der Amazon-Rezensionen zum Buch ist sehr passend formuliert: „Das Ganze grenzt an Sabotage der Versuche unser Bildungssystem zu verbessern.“ Durch reißerische Werbung in einem großen Verlag und geschickt lancierten Interviews hat es nun doch einige Aufmerksamkeit erlangt3. Hoffen wir, dass damit ein ausgewogener wissenschaftlicher Fachdiskurs eröffnet wird, und dass der dazu dient, die aktuellen Umsetzungen von Montessori-Pädagogik ausgewogen und mit ihren Stärken und Schwächen in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Als Praktiker:innen können wir empfehlen, das Geld für den Erwerb des Buches besser in die Fahrtkosten zum nächstgelegenen Montessori-Haus zu investieren und dort zu hospitieren. So kann sichtbar werden, welches wertvolle Fundament uns Maria Montessoris Pädagogik gebaut hat und wie wir darauf aufbauend Antworten für die pädagogischen Herausforderungen des modernen Alltags entwickeln. Und möglicherweise liegt verborgen in einem modernisierten Konzept der „heilige Gral“, also die pragmatische und bereits praktizierte Antwort, nach der in vielen Bildungsprotesten und Initiativen, wie zum Beispiel #NeustartBildungjetzt, gesucht wird.
Als gesichert kann gelten, das Grundsatzpapier der UNESCO vom 9. November 2023 ist eine klare Handlungsaufforderung an die Bildungspolitik und die Bildungsakteur:innen, denn „ insanity is doing the same thing over and over again, but expecting different results.“ 4
Dr. Silke Kipper (in Zusammenarbeit mit J. Reiche, zweiter Teil zu „Rückblick mit Aussicht auf morgen“)
Quellen:
1 Wortlaut der UNESCO-Empfehlung zur Bildung für Frieden, Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung (in Englisch): https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000386653
2 https://www.unesco.de/bildung/bildung/unesco-verabschiedet-neue-weltbildungsempfehlung, aufgerufen am 7.3.2024
3 Buch, Werbung dafür und Rezensionen siehe https://www.amazon.de/lange-Schatten-Maria-Montessoris-Book/dp/3407259379/ref=sr_1_1?crid=18R2JGUJSYUG7&dib=eyJ2IjoiMSJ9.DMvVvuUG6te-oDYh2L3Wz3ACoE7T_IZFuB5uGL5INJu55L7LGgUaeFX5fCZ5IZWtu1JlB9Gw56DzTQSuAlF_lLma-Q3qtv5EShHuqMysBjeP-upUCJsK5xAwchGP-dHUyu_M35CyH5FHMcLSTEQP7QOI5k5k-GwAvX6Wc-vNXIlTnAbLsvLxt70K3kOBv0ehEABVa6jp3dyMkw1kE3w50jKXQvIHvIbbyisD5Ct7BNg.LC0yLBSesyiSOkwViCJ-fvKU3ziS8nDHBJEnPUfyvLQ&dib_tag=se&keywords=sabine+seichter+der+lange+schatten+der+maria+montessori&qid=1709802061&s=books&sprefix=seichter+montessori%2Cstripbooks%2C123&sr=1-1 aufgerufen am 7.3.2024
4 Rita Mae Brown: Sudden Death, Bantam Books, New York:1983, S. 68