…aber wissen wir es auch?
Wir stehen vor der Tür des Landweghauses, der Abend ist vorbei. Eine Eule ruft, eine App bestätigt, die Waldohreule ist zurück. Wir schmunzeln, sind ein bisschen fasziniert und denken gleichzeitig: Irgendwie ist das genau unser Thema. Denn exakt das passiert mit unseren Kindern. Sie wachsen in einer Welt auf, in der Wissen nicht mehr mühsam in Bibliotheken gesucht werden muss, sondern per App in Sekunden abrufbar ist. Sie müssen nicht mehr Buchstaben mit dem Finger nachfahren, sondern tippen oder sprechen und die KI vervollständigt ihre Sätze. Sie müssen sich keine Treffpunkte ausmachen, weil die ganze Clique in Echtzeit über WhatsApp oder Snapchat verbunden ist. Und ja, selbst wenn wir nachsehen wollen, welcher Vogel da ruft, es gibt eine App dafür.

Der Ruf der Eule am Baum ist das letzte Geräusch am Ende eines Medienpädagogischen Abends, der stattfand, weil uns Eltern die Frage umtreibt, wie wir Kinder im digitalen Medienzeitalter gut begleiten können. In kleinen Arbeitsgruppen haben wir uns verschiedene Fragen erarbeitet: Kann mehr Vorsicht helfen? Welche Messenger sollte man verbieten? Was ist mit der Flucht in die Anonymität und führen Medien zu Kreativitätsverlust oder fördern sie gar die Kreativität? Mediennutzung schafft auch Gemeinschaft, aber was ist mit Gruppenzwang? Spiele können Kompetenzen fördern, Englisch verbessern, doch was ist eine angemessene Bildschirmzeit? Und welches Kind erarbeitet sich noch mühsam eine Division mit Holzperlen, wenn der Taschenrechner das in 10 Sekunden löst? Wir schicken unsere Kinder auf eine Schule, die mittels didaktischer Materialien die Selbstständigkeit fördert. Wir ermutigen sie, sich durch praktische Erfahrungen Wissen zu erarbeiten. Aber dann sollen wir Zuhause sagen: Leg das Tablet weg, das ist nicht gut für dich. Ist doch ein Widerspruch oder zumindest ein Spannungsfeld, das wir reflektieren wollen. Ja, das Medienzeitalter fordert uns heraus und befragt uns nach unserer Haltung.
Aber vielleicht fordert uns diese Zeit genau so heraus, wie die Industrialisierung Maria Montessori herausgefordert hat. Montessori hat damals Kinder während ihrer Tätigkeiten beobachtet und Konsequenzen gezogen. Sie sah, dass Kinder durch Bewegung besser lernen und entwickelte Materialien, die motorische und kognitive Prozesse verbinden. Sie erkannte, dass Kinder durch konkrete Erfahrungen abstrakte Konzepte begreifen und schuf Materialien, um mathematische Strukturen erlebbar zu machen. Sie beobachtete, dass Kinder am besten lernen, wenn sie sich mit echtem Material auseinandersetzen und lehnte deshalb didaktische „Beschallung“ oder rein theoretische Wissensvermittlung ab.

Was würde sie heute beobachten und was wäre heute ihre Antwort? Vermutlich würde sie beobachten, wie Kinder Medien nutzen, wie sie darauf reagieren, was sie daran fesselt, was sie überfordert. Und dann würde sie sich fragen: Wie können wir die Stärken dieser neuen Werkzeuge nutzen, ohne dass sie den Kindern ihre Eigenständigkeit nehmen? Wenn Montessori damals ihre Materialien erfunden hat, um Kindern durch haptische, selbstbestimmte Erfahrungen die Welt zu erklären, dann müssten wir das doch heute auch für den digitalen Raum tun. Unsere Verantwortung ist groß. Studien zeigen, dass übermäßiger Medienkonsum im frühen Kindesalter die kognitive Entwicklung beeinflussen kann. Laut einer Untersuchung des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI, 2023) nutzen bereits 72 % der 0- bis 6-Jährigen regelmäßig das Internet, der Erstkontakt mit digitalen Geräten erfolgt im Durchschnitt mit 12 Monaten. Und doch, das Problem scheint nicht die Bildschirmzeit, sondern eher die Art der Nutzung zu sein. Die KIM-Studie 2022 zeigt, dass ein Drittel der Grundschulkinder täglich online ist, oft auf YouTube oder WhatsApp, also vielleicht nutzen sie Internetzugänge nicht unbedingt, um sich die Schwarmintelligenz für klassische Lerninhalte nutzbar zu machen (mpfs.de). Digitale Kommunikation mag für Montessori Grundschulkinder noch nicht zutreffen, aber wir nähern uns spürbar Jahr zu Jahr der Thematik an.

Es geht also auch für uns darum, eine neue Bildungsphilosophie für das digitale Zeitalter zu entwickeln. Unsere Chancen für geeignete Umsetzungsideen stehen gut, denn wir sitzen an der Basis. Für die Schule haben wir den Versuch bereits unternommen, z.B. durch das Angebot digitaler Lernräume und die Nutzung digitaler Materialien, die nicht lineare Inhalte vorgeben, sondern die Kinder auffordern, eigene Erkenntnisse zu generieren. Kinder können Nachrichtenflüsse nachstellen, Filterblasen simulieren und Algorithmen nachbauen, um Manipulationsstrategien zu durchschauen. Das ist sogar analog möglich. Sie lernen, wie Algorithmen funktionieren, wie Fake News entstehen und wie soziale Medien sie beeinflussen können. Wir haben Medien-Laborräume, in denen sie mit physischen Materialien programmieren, digitale Prozesse erlebbar werden durch kleine Roboter oder haptische Coding-Tools. So wie Kinder mit Montessori-Materialien durch Ausprobieren und Korrekturen Zusammenhänge erfassen, müssen sie auch im Digitalen lernen, Informationen selbst zu prüfen, Quellen zu vergleichen und Widersprüche zu erkennen.

Aber lasst uns doch auch in unserer Elternschaft für die Begleitung unserer Kinder mitten im digitalen Zeitalter diesen Versuch unternehmen und die Diskussion weiterführen. Denn nichts ist aktueller als Bildung, die sich an der Realität orientiert. Wir haben vor ca. 25 Jahren zehn Bildungsgrundsätze als Leitlinien für unser Konzept formuliert. Sie sind immer noch aktuell, aber es könnte sein, dass wir sie um die neuen Herausforderungen erweitern müssen. Was die Generation der Gründungseltern und heutigen Elternschaft verbindet, ist die Erfahrung einer Schule, die sich an der Realität orientiert und diese Realität verändert sich. Selbstständigkeit, Partizipation und Individualisierung sind geblieben, doch die Rahmenbedingungen sind andere. Die Grundsätze bleiben, doch wir schreiben sie weiter. Gemeinsam. Und deshalb kann der Medienpädagogische Abend tatsächlich nur ein Anfang gewesen sein.
Hier ein Diskussionsvorschlag anhand der zehn Bildungsgrundsätze aus unserem Konzept:
Die Kinder sollen selbstständig lernen – analog und digital. Wir begleiten Kinder dabei, sich Wissen aktiv zu erschließen, sei es durch praktische Erfahrungen, Gespräche oder digitale Recherche. Wir zeigen ihnen, wie sie Informationen hinterfragen und reflektiert nutzen können, anstatt sie einfach zu konsumieren. Wir schützen sie durch gemeinsam mit ihnen erarbeitete Regeln für die Nutzung.
Wir fördern die Selbstreflexion – auch im digitalen Raum. In einer Welt, in der Algorithmen Inhalte kuratieren und soziale Medien unsere Meinungen beeinflussen, ist kritisches Denken wichtiger denn je. Wir ermutigen Kinder, sich Fragen zu stellen: Warum wird mir dieser Inhalt angezeigt? Wer profitiert davon?
Wir bewerten nicht das Kind, sondern die Handlung – online wie offline. Fehler sind Lernchancen, ob beim Bauen mit Holz oder beim Schreiben einer Nachricht in einem Chat. Wir fördern verantwortungsbewusstes Handeln und helfen Kindern, auch im digitalen Raum respektvoll zu agieren.
Jeder Mensch wird von uns in seiner Authentizität respektiert – unabhängig vom Medium. Kinder drücken sich heute auf viele Arten aus: durch Worte, Bilder, Code oder digitale Kunst. Wir respektieren jede Form des Ausdrucks und lehren sie, digitale und analoge Räume als Möglichkeiten für authentische Kommunikation zu nutzen.
Die Kinder sollen sich geborgen und sicher fühlen – auch in der digitalen Welt. Digitale Räume sind real, sie beeinflussen unser Selbstbild und unser Wohlbefinden. Wir helfen Kindern, sich sicher zu bewegen, digitale Gefahren zu erkennen und Grenzen zu setzen, für sich selbst und für andere.
Ihre Freude am Lernen soll erhalten bleiben – unabhängig von der Methode. Neugier wächst, wenn Kinder eigene Wege gehen dürfen. Ob sie mit Materialien experimentieren oder ein digitales Projekt gestalten: Lernen bleibt ein Entdeckungsprozess, der Spaß macht.
Wir vertrauen der Kompetenz der Kinder – auch im Umgang mit Technologie. Kinder lernen nicht nur mit digitalen Medien, sie gestalten sie mit. Wir bestärken sie darin, Technologie kreativ und kritisch zu nutzen, anstatt sich von ihr bestimmen zu lassen.
Zeitliche Rahmen sind für uns relativ – auch in der digitalen Balance. Starre Bildschirmzeiten sind keine Lösung. Wir unterstützen Kinder dabei, ein Gefühl für gesunde digitale und analoge Zeiten zu entwickeln, basierend auf ihren Bedürfnissen und deren der Gruppe, nicht auf starren Regeln.
Wir wollen gegenwärtig sein – und mit den Kindern die Gegenwart gestalten. Wir ignorieren die digitale Welt nicht, wir gestalten sie aktiv mit. Gemeinsam mit den Kindern finden wir Wege, wie Technologie unser Leben bereichern kann, ohne uns von ihr steuern zu lassen.
Wir fördern das Denken und Handeln in ökologischen Zusammenhängen – auch digital. Digitale Medien haben eine ökologische Dimension. Daten verbrauchen Ressourcen, Geräte haben eine begrenzte Lebensdauer. Wir sensibilisieren Kinder für einen nachhaltigen Umgang mit Technologie.
Lasst uns doch eine kleine Gruppe von interessierten Eltern bilden, die zu der Thematik weiter diskutiert oder in der nächsten Elternabende nutzen, um das Gespräch wieder aufzunehmen und fortzuführen! Vielleicht können daraus ja auch konkrete Empfehlung für die Begleitung der Kinder im Kinderhaus- und Grundschulalter erfolgen. Wer sein Kind im Landweghaus anmeldet, weiß dann genau, worauf er sich einlässt in punkto Nutzung digitaler Medien. Und muss dann nicht mehr irritiert sein, wenn das Kind zu Hause sagt: Alle dürfen das! Es gebe dann eine Austauschbasis für uns als Elternschaft.
Und während wir auf dieser Gratwanderung weiter balancieren, können wir darauf vertrauen, dass die Eule sicher auch im nächsten Jahr auf ihrem Ast herumturnt.