Die Bilder von Chemnitz erzählen nicht nur Realpolitik, sondern auch von der Vergangenheit dieses Landesteiles, ehemals DDR. Was die Menschen vor der Kamera sagten, sagten sie früher hinter vorgehaltener Hand. Lügenpresse, der Glaube, dass der Staat einen betrügt, dass Meinungen gesteuert werden. Das ist alles nicht neu und es war ja damals auch nicht ganz verkehrt. Dass der große Mann es schon richten wird, heute Trump, auch nicht neu. Das alles ist prägend. Und doch: Es gab vor 1989 nicht die DDR, in der alle das Gleiche dachten und taten. Es scheint ein Teil des Problems in Sachsen zu sein, dass mangels medialem Abgleich über verschiedene Kanäle die Erwartungen an das neue Land nach dem Mauerfall sehr hoch waren und die Enttäuschung dementsprechend größer sind.
Vergleicht man, dann gab es damals, wie auch heute, große Unterschiede in den Landstrichen. Das könnte mit der jeweiligen Sozialisierung, auch der regionalen Schulkultur zu tun gehabt haben. Die häusliche Ausgangssituationen waren ohnehin unterschiedlich, soweit sie das im Osten sein konnten. Was allerdings für alle galt: In der Schule waren die Schüler Teil einer Gemeinschaft, die sie nicht wählen durften. Für die Gemeinschaft galten strenge Regeln. Es ist vielleicht nicht mehr bekannt, aber noch bis weit in die 80er standen Ostschüler einmal in der Woche beim Fahnenappell und wer sich fehlverhalten hat, wurde abgestraft, öffentlich. Eine eigene Meinung durfte bestenfalls zu einem Bild, einem Gedicht formuliert werden, aber selbst da galt es, nicht das Falsche zu sagen. Dass jemand seine Meinung zur Realpolitik äußerte, fand nicht statt. Öffentlich wurde über Politik in Losungen gesprochen oder gar nicht. Dabei kann man gebrochen oder widerständig werden.
Man kann aber auch trotz verschiedener gesellschaftspolitischer Zwänge mit engagierten und fordernden Lehrern aufwachsen, sich mit Inhalten auseinandersetzen und daran reifen, trotz allem Interessensgebiete und eine eigene Identität entwickeln.
Viele hatten das Glück, in einem wichtigen Alter eine Gesellschaft in Frage stellen zu dürfen, in Ansätzen sogar neu zu konzipieren in den späten 80ern, Anfang der 90er Jahre. So wurden die ersten realpolitischen Demokratieerfahrungen gemacht.Der Landweg e.V. wurde 2001 mit Eltern aus verschiedenen Teilen Deutschland gegründet. Ein Elternkonzept ist ein Kompromiss aus vielen Wünschen. Als wir unseren ersten Konzeptentwurf und unser pädagogisches Interesse beim Ministerium einreichten, mussten wir im Nachgang umfassende Teile unseres Konzepts überarbeiten. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn zunächst hatten wir unsere unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen, Ideen formuliert, wie Schule sein könnte. Uns beeindruckte, dass im Konzept nicht stehen durfte: Wir wollen, dass unsere Kinder zu politisch denkenden und handelnden Personen werden. Für uns eine Notwendigkeit nach dem Fall der Mauer, damals die Ablehnung aus dem Ministerium unverständlich. Wahrscheinlich hätte es gereicht, „politisch“ gegen „demokratisch“ zu tauschen.
Reformschulen sehen sich dem Ansatz der echten Teilhabe und Mitgestaltung von Gesellschaft verpflichtet. Innerhalb der Reformschulbewegung gibt es jedoch große Unterschiede. Wir haben uns für eine reformpädagogische Orientierung an der Montessoripädagogik entschieden. Maria Montessoris Pädagogik ist darauf konzipiert, dass der Erwachsene das Kind begleitet, dass der Erzieher, wie sie es nennt, durch die Vorbereitung der Umgebung eine menschliche Kulturumgebung schafft. Es braucht Räume, in denen klar wird, dass der Mensch auf 50 Meter Evolutionsgeschichte weniger als 10 cm einnimmt, dass es Gravitationsgesetze gibt, wie Sprache entstanden ist. Räume, in denen der Fall der Mauer, die Folgen der Umweltverschmutzung diskutiert werden. Räume, in denen Menschen antastbar sind. Es braucht Vorbilder, um einen Weg in die Gesellschaft zu finden. So entsteht Orientierung auf dem Weg in die Welt. Maria Montessori hat sich der Thematik in vielen Vorträgen und Publikationen gewidmet. Sie beschreibt unter anderem, dass der Erwachsene das Kind nicht seinem Willen unterwerfen darf, es nicht in seinem Potential, seiner Intelligenz und seiner Würde unterschätzen darf, ihm aber auch nicht zu große, unbewältigbare Freiräume, einräumen darf, die es überfordern würden. Denn das alles würde den Weg in eine friedvolle Gesellschaft blockieren, so beschreibt sie es. Zentraler Punkt ihrer Pädagogik ist die Friedenserziehung und der Blick auf eine gemeinsame Wertegesellschaft weltweit.
Wer sich ihrer Pädagogik verpflichtet fühlt, muss gut beobachten, genau dokumentieren und bereit sein, individuell zu begleiten. Eine Pädagogik, die Individualität zulässt und Gemeinschaft ermöglicht, Teilhabe und kooperierende Herangehensweisen als selbstverständlich ansieht, ist ein Ort, an dem Schüler zu politisch denkenden und handelnden Personen werden. Und wenn das so ist, dann besteht Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft.
Auszug aus der Einschulungsrede 2018
„Als wir 2001 die Schule eröffneten, gab es verschiedene Motivationen, die zur Gründung führten: Wir wollten mit Herz, Verstand und Gefühl handeln dürfen. Wir riskierten damit, dass wir auch mal unverständlich, überfordernd sein würden, weil das Gefühl nun mal sehr individuell ist und keinem Regelwerk folgt. Wir wollten keine Dogmen. Viele von uns waren unter Doktrinen aufgewachsen und wir wollten unbedingt, dass unsere Kinder ihre Weltanschauung entwickeln dürfen. Dazu gehörte für uns auch, uns dem Diktat einer Reformbewegung zu verweigern. Wir wollten etwas Eigenes entwickeln, was sich auch verändern darf, eben weil es keinem Diktat unterliegt. Wir wollten unseren Kindern ein weiteres Zuhause bieten. Logisch, dass wir uns nicht wie eine Institution gebärdeten. Zuhause, das heißt ja ein Regelwerk verhandeln, dass nachvollziehbar ist und Ausnahmen gestatten, wenn es die Lage erfordert. Wir wollten, dass unsere Kinder Weltbürger und Lokalpatrioten sein würden. Wir wollten die Welt ins Klassenzimmer holen und ihre unmittelbare Umgebung, die Prignitz, mit ihnen erkunden. Toleranz und Friedenserziehung gelingt nicht, wenn man Welt oder Heimat ausschließt. Wir wollten Freund sein dürfen mit unseren Kindern und den dazugehörenden Familien. Hört sich am einfachsten an, aber ist bis heute der schwierigste Punkt. Freunde vertrauen sich, sagen sich die Wahrheit und streiten sich auch mal. Aber sie streiten sich, um Standpunkte zu klären, Lösungen zu finden, nicht um sich abzugrenzen von dem Anderen. Verstehen und Freundsein ist ein Aneignungsprozess mit Höhen und Tiefen. Das kann nicht jeder nehmen oder geben, das rückt auch mal zu nah, weil heutzutage alles reibungslos laufen soll, dabei ist es doch die Reibung, die Wärme erzeugt. Und, vielleicht der wichtigste Punkt, wir sind überzeugt davon, dass wir die Kinder in eine Welt entlassen, die wir nicht kennen. Künftige Gestalter und Gestalterinnen unserer Zukunft werden vielen Herausforderungen gegenüberstehen, denen sie eher mit Fragen als mit Antworten begegnen müssen. Für diese Kompetenz braucht man Urteilsvermögen und Gestaltungswillen, dazu muss der eigene Standpunkt klar sein und der entwickelt sich, indem es Raum für Phantasie und keine Angst vor dem Fehler gibt.“