„Welterschütternde Kräfte lassen heute die Verwirklichung der menschlichen Einheit zu einer dringenden Notwendigkeit werden“ (Maria Montessori, Frieden und Erziehung, 1973) Das Virus ist da, das ist wissenschaftlicher Konsens- und ja, es schränkt uns ein. Es kann also schon vorgekommen sein, dass Kinder wegen des Lernens Zuhause, des Maskentragens oder des Präsenzunterrichts geschimpft oder geweint haben. Sie rebellieren aus vielen Gründen und trotzdem muten wir ihnen das Leben in all seinen Facetten zu. Bedauerlich wird es, wenn sie für bestimmte Argumentationslinien herhalten müssen. Es wird manches behauptet in diesen Zeiten und wenig in Gruppierungen unterschiedlicher Ansichten diskutiert. Das mag daran liegen, dass Gespräche schwieriger geworden sind. Jemand, der sich mit Michael Ballweg austauscht oder über Frank Schreibmüller vernetzt ist, hat eine andere Sicht auf Verordnungen als Menschen, die sogenannte „Mainstream-Medien“ verfolgen. Es geht hier also gar nicht um die Frage, ob Corona harmlos ist oder die Politik Fehlentscheidungen trifft. Das Gespräch würde schon im Ansatz scheitern. Nie war es leichter, Argumente aus einem scheinbar wissenschaftlichen Setting zu veröffentlichen und dann zitiert zu werden. Dafür braucht es keine wissenschaftliche Expertise, nur einen Online-Zugang. Je schlichter die These, desto leichter transportierbar und verständlicher- mehr Likes, mehr Gehör. Mehrheiten kann man durchaus in beide Richtungen in Frage stellen. Das Ziel eines Gespräches, das Einpendeln auf einen Kompromiss, ist schwieriger geworden. Die Stimmung ist angespannt, mitunter liegen die Nerven blank. Wobei der Habitus des Drohens und der verächtliche Sprachgebrauch nicht den sogenannten „Staatstreuen“ oder „Schlafschafen“ zuzuordnen ist. Und in der Art der Drohgebärden lassen sich durchaus historische Bezüge finden!
Diese Entwicklung ist verwirrend, denn die Abwendung vom Staatswesen und von demokratischen Prozessen, verbunden mit dem Gefühl des rechtmäßigen Widerstandes im Kampf für sehr persönliche Rechte, ist nun mal sehr nah am Reichsbürgertum und den Programmen rechter Gruppierungen, auch wenn das äußere Erscheinungsbild dieser Protestierenden eher in der alternativen Szene angesiedelt ist. Der heute beobachtete Rückbezug auf esoterische Erklärungsmuster ist auch aus der kollektiven Suche nach einer nationalen Identität in den 20er Jahren bekannt.
Gegen etwas zu sein, ist heutzutage herrlich leicht, man kann das sogar tanzend und „ein bisschen Sars muss eben auch sein“. Dass das zynisch klingt für jeden mit betroffenen Angehörigen oder selbst Betroffene*n dieser Krankheit, das muss man wegatmen. Man kann behaupten, dass man in einer Diktatur lebt und seinen eigenen Telegram-Wissensstand über den von Wissenschaftler*innen stellen. Wenn das Land nicht tausend Experten für Spezialgebiete hat, nennt sich das Meinungsmache einer imaginären, vermutlich dann ja internationalen, Macht. Man kann sogar Wissenschaftler*innen und Politiker*innen auf Plakaten erhängen. Man kann sich selbst zum Experten oder zur Expertin erklären. Es ist ein irritierendes Erproben von Widerstand, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Es ist ein Luxus-Widerstand in einer Luxus-Gesellschaft, die uns insgesamt wenig herausfordert, auch wenn es sich für eine*n persönlich anders anfühlen mag. Viele Eltern, deren Kinder aktuell zu Hause bleiben, distanzieren sich von diesen Gruppierungen. Wir sind froh mit allen Elternhäusern nach wie vor in gutem Kontakt zu sein, selbst wenn unsere Meinungen verschieden sind. Das ist gelebte Demokratie. Uns geht es darum, positiver Teil eines die Zukunft gestaltenden Wandels zu sein, die aktuelle Situation hält uns lediglich einen Spiegel vor. Das sind wir also gerade!
Und da kommt die Herausforderung für uns als Pädagog*innen ins Spiel, denn unser eigentliches Bildungsziel ist formuliert. „Wir müssen Schulen haben, um die Einheit der Menschheit in dieser formativen Periode zu fördern, denn diese Einheit kann nicht direkt durch die Erwachsenen erreicht werden. Brüderlichkeit bedeutet für die Erwachsenen eine Tugend, eine Anstrengung, eine Abstraktion. Wenn wir aber dieses brüderliche Verstehen während des Aufbaus der Persönlichkeit in das Leben der Kinder bringen, wird es eine Eigenschaft jedes Individuums und braucht später nicht von einer hohen Philosophie her gelernt werden“ (Montessori, Dem Leben helfen 1992, S. 107) Der große Auftrag der Schule ist es also, neben der Wissensvermittlung, „brüderliches Verstehen“- schwesterliches ebenso- zu ermöglichen. Das klingt leicht, ist aber eine große Verantwortung und Aufgabe, die Pädagog*innen nicht allein dadurch übernehmen, dass sie nett und gut vorbereitet sind. Das braucht Konzepte. Das erfordert zusätzlich eine
Idee von einem Bildungskanon in einer digitalisierten Welt. „Man kann noch so quellen- und medienkompetent sein. Man braucht schon ein bisschen Allgemeinbildung, um Informationen auch
einordnen zu können.“ (HörbarRust, 18.04.2021) Wissen schafft Bildung und wissenschaftliche Erkenntnisse sind ein Transportmittel. Menschen haben die Angst vor „dem Fahrradgesicht“ oder die Idee einer Erde als Scheibe überwunden- da werden wir doch auch das jetzt überstehen. Immerhin hielten sie die Erde mal für den Mittelpunkt des Universums bevor die Pest viele von ihnen und die ganze Idee hinwegraffte. „Die Fortschritte unserer Zivilisation stützen sich auf eine wissenschaftliche Grundlage“ (Montessori, Erziehung für eine neue Welt 1998, S. 156)
In einer guten Schulkultur gelingt beides, die Wissensvermittlung wie auch Unterstützung in den sozialen Prozessen. Verantwortungsgefühl und Fehlerfreundlichkeit werden vermutlich nur in einer Gemeinschaft wachsen, die sich dem Solidargedanken verpflichtet fühlt, die Kompromisse schließen kann und damit auch die Schwachen schützt. Das ist anstrengend und es geht über die eigene kleine Komfortzone und Wohlfühlgruppe hinaus. Lasst uns dennoch Hoffnung verbreiten und konkret werden!
Wir müssen auch als Laien wissenschaftliche Erkenntnisse einordnen können, Informationen verstehen, das kann man üben. Wir müssen klären, was es bedeutet, Teil einer demokratischen Gesellschaft zu sein. Vielleicht auch globaler denken. Es hat schlicht eine andere Konsequenz, sich in der Türkei oder Hongkong gegen das System zu wenden. Und historisch betrachtet dürfte interessant sein, was es tatsächlich bedeutet, in einem Überwachungsstaat wie der DDR gelebt zu haben. Immerhin gibt es da wenigstens noch Zeitzeugen. Niemand, der damals oder noch früher im Widerstand war, kann ernsthaft Parallelen zur heutigen Zeit ziehen. Was bedeutet also Meinungsvielfalt in gelebter Demokratie und was ist die geeignete Tonlage? Also Mut zu einem wissenschaftsbasierten Diskurs! Verschwörungsmythen haben in einer gebildeten Gesellschaft keinen Platz, außer vielleicht in einer Betrachtung aus sozialkritischer Perspektive.
„Auf jeden Fall ist es die wissenschaftliche Bewegung, die wenigstens einigermaßen das stets weiter um sich greifende Übel hemmt und den verwirrten und desorientieren Geistern einige Hilfe bietet. An dieser Bewegung muss sich die Erziehung anschließen. Glaubt mir, die sogenannte moderne Erziehung, die nur danach strebt, die Kinder von vermeintlicher Unterdrückung zu befreien ist nicht auf dem richtigen Weg. Die Kinder tun zu lassen, was sie wollen, sie mit leichter Beschäftigung zu ergötzen und beinahe zu einem Leben im Naturzustand zurückzuführen, genügt nicht. Es geht nicht so sehr um eine Befreiung von Fesseln als um einen Wiederaufbau. Dieser Wiederaufbau fordert die Ausarbeitung einer Wissenschaft vom menschlichen Geist“ (Montessori: Über die Bildung des Menschen- aus Montessoris letzter Schrift in Dem Leben helfen 1992, S.132)
Auch an anderer Stelle ergeben sich für uns nun konkrete Aufforderungen. Heterogenität ist uns im Landweg wichtig und ist an unserer Elterngemeinschaft auch ablesbar. Es gab allerdings immer ein Ausschlusskriterium, das waren Menschen, die sich gegen Menschengruppen oder eine aufgeklärte Gesellschaft richteten. Heute ist das schwieriger, denn die Weltanschauungen sind dehnbarer geworden. Man kann sich ja schwer gegen jemand entscheiden, der sich kritisch äußert und dem das persönliche Wohl sehr viel bedeutet. Und doch – die Grenzen sind auch jetzt klar zu ziehen. Unsere Leitplanke ist die Vertrauensebene und wem die Alternativangebote nicht reichen, wer sich grundsätzlich gegen die Leitlinien des Hauses ausspricht, sollte sein Kind nicht in unser Haus bringen müssen und zugunsten der Entwicklung des eigenen Kindes auch nicht dürfen. Vertrauen zwischen Schulteam und Elternhaus ist die Basis für das erfolgreiche Lernen des Kindes an einer reformpädagogischen Schule.
Einige der Zitate von Maria Montessori lesen sich fast so, als hätte sie diese angesichts einer Pandemie verfasst, als hätte sie die Herausforderungen unserer Zeit vorausgesehen. Vermutlich hatte sie während ihrer vielen Reisen ganz ähnliche Szenarien vor Auge, manche dieser Schriften sind während eines Aufenthalts in Indien entstanden. Katastrophen treffen die Ärmsten am härtesten, das zeigt der Klimawandel, das kann man auch jetzt beobachten. Lasst unsere Kraft und unser Augenmerk darauf richten. Was Maria Montessori uns in ihrer Pädagogik an die Hand gegeben hat, sind Antworten: Ermächtigung der Kinder zu solidarischem, brüderlichem Handeln. Wir sind bei allen momentanen Herausforderungen sehr glücklich, mit euch und euren Kindern weiter dieses pädagogische Konzept umzusetzen. Dafür nehmen wir Masken und Tests und vielerlei weitere Umständlichkeiten gern in Kauf. Und das Konzept gelingend umzusetzen, meint ausdrücklich auch die Kinder und Familien, deren Herausforderung gerade darin liegt, die Kinder zu Hause zu betreuen. Zusammen schaffen wir das!