Maria Montessoris Erbe: Kinderrechte und Bildung für nachhaltige Entwicklung
Die UNESCO bat die weltweit bekannte Ärztin und Bildungsreformerin Maria Montessori Anfang der 50er Jahre um eine Botschaft zur „Deklaration der Menschenrechte“. Was sie zu sagen hatte, war in dieser Zeit so provokant wie eindeutig: „Das erste Menschenrecht, das Grundrecht, sollte das Recht des Kindes anerkennen und es unterstützen, jene Hindernisse zu überwinden, die seine konstruktiven Energien behindern, unterdrücken oder beschädigen und ihm die Gewissheit vorenthalten können, ein tatkräftiger ausgeglichener Erwachsener zu werden.“ (DMG & AM, 2015, 59)
Acht Jahre später, im Jahr 1959, verabschiedeten die Vereinten Nationen die Präambel zur Erklärung der Rechte der Kinder. Und 30 Jahre später zählt die Kinderrechtskonvention zu den meist ratifizierten Menschenrechtsverträgen, das Recht der Kinder hielt Einzug.
Trotzdem bleiben die vier Grundprinzipien – das Recht auf Nichtdiskriminierung, das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung, das Recht auf Beteiligung sowie die Wahrung der Kindesinteressen – aufgrund von menschengemachten Krisen unzureichend geschützt. Bildung ist jedoch ein entscheidendes Instrument, um positive Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken. Deshalb hat die UNESCO als Sonderorganisation der Vereinten Nationen die Globale Bildungsagenda 2030 entwickelt, um das Bildungssystem zu transformieren. Ziel ist es, dass Kinder nicht nur Wissen erwerben, sondern auch Kompetenzen entwickeln, um sich für ihre Rechte einzusetzen, nachhaltige Lebensweisen zu fördern und sich aktiv an der Gestaltung ihrer Zukunft zu beteiligen. Veränderungen in den Schulen sollen den Erwerb dieser Kompetenzen fördern und so dazu beitragen, Kinder zu aktiven Bürgern zu formen, die sich für eine gerechtere und nachhaltigere Welt engagieren (vgl. UNESCO, 2021, S.8).
Maria Montessori formulierte das in einem ihrer Vorträge mit dem Ausbruch des 2. Weltkrieges in Europa so: „Wir müssen beim Menschen selbst ansetzen, ihn mit Geduld und Vertrauen annehmen, über alle Phasen der Erziehung hinweg. Wir müssen ihm alles zugänglich machen: Schule, Kultur, Religion, die Welt selbst. Wir müssen ihm helfen, in sich selbst das zu entwickeln, was ihn befähigt, Verständnis aufzubringen. Das sind keine leeren Worte, das ist die Arbeit der Erziehung. Dies wird eine Vorbereitung auf den Frieden sein- denn ohne Gerechtigkeit und ohne Menschen, die mit einer starken Persönlichkeit und einem starken Gewissen ausgestattet sind, kann es keinen Frieden geben.“ (DMG & AM, 2015, S.45) Sie betonte also bereits vor Jahrzehnten die Bedeutung einer Erziehung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Sie argumentierte, dass Frieden nur erreicht werden kann, wenn Kinder in ihrer Persönlichkeit und ihrem Gewissen gestärkt werden, dass ein Gehorsam, der den Menschen darauf vorbereitet, ein schicksalhaft unterworfenes Wesen zu sein, den Weg zur Vergötterung gegenüber Führern öffnen würde, also jenen Figuren, die sich dem Kind als unfehlbar aufdrängen. Sie bezeichnete 1932 auf ihren Reisen durch Europa die „Wissenschaft des Friedens“, die Rückkehr zur Vernunft, als eine Verpflichtung (vgl. Trabalzini, 2011, S.191).
Eine Rückkehr zur Vernunft, wie sie es nannte, erfordert eine Bildung, die auf Gerechtigkeit angelegt ist und den individuellen Lernprozess jedes Kindes anerkennt. Deshalb ist ein Merkmal der Montessori-Pädagogik die Förderung der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmung. Der inklusive Ansatz könnte in der Breite die Ungerechtigkeit in unserem Bildungssystem auflösen. Dieser Erziehungsprozess bezieht sich nicht auf Glaubenssätze und Herkunft, sondern erkennt den individuellen Lernprozess an. Leistungen werden in dieser Pädagogik schrittweise auf der individuellen Ebene aufgebaut, orientiert an den Leistungsvoraussetzungen und der Leistungsfähigkeit des einzelnen Kindes. Das erfordert eine hohe Beobachtungs-Kompetenz und Bereitschaft zur Vorbereitung der Umgebung. Es ist ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess, nicht nur beim Kind. Das geeignete Material muss bereitgestellt und präsentiert, auch an moderne Bedürfnisse angepasst, werden. Über die Selbstkontrolle, die weitgehend im Material liegt, wird dem Kind dann im Folgenden eine Richtschnur in die Hand gegeben, an der es selbst feststellen kann, ob es der Sache gerecht geworden ist oder nicht. Dies stellt eine große Hilfe auf dem Weg zu Unabhängigkeit und Selbständigkeit dar. Die Qualität des Aneignungsprozesses ist davon abhängig wie mit Fehlern umgegangen wird, ob sie als Lernchance interpretiert werden. „Wir müssen dem Fehler gegenüber ein freundschaftliches Verhältnis an den Tag legen“, formulierte Montessori. Wenn also die Bildungseinrichtung als forschende und lernende Umgebung verstanden wird, dann ist der Fehler „ein Begleiter, der mit uns lebt.“ (Montessori,1972, S.222)
Basierend auf ihren Beobachtungen war Montessori davon überzeugt, dass Kinder einen angeborenen Wunsch haben, Lernziele zu erreichen, und beschrieb ihr Lernen als Arbeit, um seine Ernsthaftigkeit zu betonen. Sie argumentierte jedoch dagegen, die Leistungen von Kindern ständig mit denen anderer zu vergleichen. Wettbewerb in traditionellen Schulen kann zu negativen Gefühlen wie Neid, Hass und Demütigung führen, die unterdrückend und unsozial sind. In Montessori-Einrichtungen liegt der Fokus auf dem Fortschritt und den Leistungen jedes einzelnen Kindes, unter Berücksichtigung seiner individuellen Fähigkeiten und Leistungsniveaus. In einer Montessori-Umgebung haben die Kinder die Möglichkeit, ihre Lernprozesse zu gestalten. Dabei wird kontinuierlich überprüft, ob und inwieweit sie im Sinne von Lernfortschritten integraler Bestandteil der kindlichen Person geworden sind.
Und da sind wir auch schon bei den Kernmerkmalen der Bildung für nachhaltige Entwicklung, kurz BNE. Die Eigenverantwortung für das Lernen fördert nämlich nicht nur die Unabhängigkeit der Lernenden, sondern auch ihre Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen und Kompetenzen zu entwickeln, welche die nachhaltige Entwicklung der Welt und Menschheit ermöglichen. Bedeutungsvolles Lernen basiert in diesem Sinne auf einem tieferen Verständnis, das aus der Verbindung zwischen Erfahrung und Einsicht abgeleitet wird, und erfordert verschiedene Lernansätze wie Anwendung, Praxis und Transfer. Die Montessori-Pädagogik fördert das systemische und vernetzte Denken, indem sie es den Kindern ermöglicht, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Themen und Disziplinen zu erkennen. Dieses Verständnis ist entscheidend, um die komplexen Herausforderungen der heutigen Welt zu bewältigen und nachhaltige Lösungen zu finden. Dieser ganzheitliche Lernansatz umfasst bereits die frühkindliche Bildung.
Das Konzept der Kosmischen Erziehung, auch wenn seine Begrifflichkeit modernisiert werden könnte, birgt großes Potenzial für die allgemeine Modernisierung der Bildung. Harald Ludwig, Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Montessori-Pädagogik, beschreibt diese grundlegenden Perspektiven als eine ökologische und interkulturelle Perspektive, die den Dialog zwischen Religionen und Kulturen fördert, eine Friedenspädagogik-Perspektive, die strukturelle Veränderungen in der Bildung erfordert, eine ethische Perspektive, die weltweite Bildungs- und Gesellschaftsreformen auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Liebe fordert, sowie eine inklusive Perspektive, die jede Form unangemessener menschlicher Trennung überwindet (vgl. Ludwig, 2002, S. 365f). Die Konzentration auf globale Zusammenhänge, die Förderung der Unabhängigkeit und das Anerkennen von Fehlern als Lernchancen sind Schlüsselelemente, um eine Bildung zu erreichen, die den Anforderungen der Gegenwart und der Zukunft gerecht wird.
Lassen wir Maria Montessori doch posthum nochmals ihr Plädoyer an die Vereinten Nationen halten: „Ich bitte Sie inständig, nicht die Fehler zu wiederholen, die seit Beginn dieses Jahrhunderts von Leuten gemacht wurden, die den gleichen guten Willen hatten wie Sie, die mit der gleichen Einstimmigkeit zu ihren Entschlüssen gelangten wie Sie in diesen Sitzungen. Ich nahm an denselben Bemühungen teil, um die pädagogischen und sozialen Probleme zu lösen, denselben Bemühungen im Hinblick auf eine allgemeine Verständigung vor 1914 und nach 1918. Ich teilte den Enthusiasmus und die Fieberhaftigkeit, diese Probleme während der Jahre 1920 und 1930 einer Lösung näherzubringen. Sie kennen die Enttäuschungen. Es ist nicht allein guter Wille, der uns weiterhelfen wird. Es liegt nicht an der Verständigung und nicht an den Problemen. Meiner Ansicht nach kann nur ein Mittel die kommenden Generationen vor dem Elend bewahren, das auf uns lastet: vergessen wir die Probleme, und konzentrieren wir uns auf den Menschen. (UNESCO, 2002, S. 33)
Dieser Text ist der erste von zwei Teilen. Er ist hier mit leichten Veränderungen zu einer vorherigen Fassung und unter einem neuem Titel (20.03.24) veröffentlicht. Der zweite Teil, verfasst mit Dr. Silke Kipper, widmet sich der bahnbrechenden Weltbildungsempfehlungen der UNESCO Generalkonferenz und deren Leitlinien für die Bildungspolitik vom 9. November 2023 und diskutiert konkrete Umsetzungsmöglichkeiten für die Schule.
Quellen:
Deutsche Montessori Gesellschaft e.V. & Assoziation Montessori Schweiz (Hrsg.): Verantwortung für diese Welt, Herder, Freiburg- Basel-Wien 2015
Ludwig, H. (Hrsg.): Grundgedanken der Montessori-Pädgogik, Herder, Freiburg – Basel – Wien, 2017
Montessori, M.: Das kreative Kind. Der absorbierende Geist, Herder, Freiburg- Basel-Wien 1972
Trabalzini, P.: Montessori, Mussolini und der Faschismus (2011) IN: Deutsche Montessori Gesellschaft e.V. & Assoziation Montessori Schweiz (Hrsg.): Das Kind, Heft 50/2
UNESCO (Hrsg): Bildung für nachhaltige Entwicklung-eine Roadmap, Druckerei Brandt, 2021
UNESCO (Hrsg): 50 Jahre UNESCO Institut für Pädagogik: auf dem Weg zu einer lernenden Welt, Druckerei Sankt Pauli, Hamburg 2002