Vor wenigen Tagen fand unser Pädagogischer Elternabend zum Thema „Konflikte vermeiden, Bindungstheorien“ in einem praxisorientieren Impulsvortrag, unterhaltsam aufbereitet durch die Dozentin Nadine Kleifges, statt. Jesper Juul hat sich in vielen Vorträgen und Veröffentlichungen auf ähnliche Themen bezogen, unter Zuhilfenahme einiger Aussagen soll hier ein weiterer Aspekt hinzugefügt werden.
„Das Schlüsselwort heißt Bindung. Ihre Qualität entscheidet über unser Wohlbefinden und unsere Entwicklung als Mensch. Kinder werden mit allen wesentlichen menschlichen Qualitäten geboren und haben daher auch dieselbe Verletzlichkeit und Überlebensfähigkeit wie Erwachsene.“
Wir haben Kinder bekommen und wir lieben sie und doch ist es eine tägliche Aufgabe, diese Beziehung gesund und stabil zu halten. Die Kinder werden älter und damit auch selbstständiger. So sind wir mit jedem Lebensjahr des Kindes wieder mehr zu unseren Belangen zurückgekehrt. Eine Neubetrachtung ist kein Aufruf zur Helikopterei oder permanentem Lenken, Mitspielen und Gestalten des Kinderalltags. Es ist ein Aufruf, echtes Interesse am Kind aufrechtzuhalten und daraus Antworten abzuleiten, die nicht auf tradierte Erklärungsmuster oder veraltete Erziehungskonzepte zurückgreifen. Echtes Interesse fordert uns auf, über organisierte Familienangebote hinaus, Zeit für unsere Kinder im Alltag freizuhalten. Zeit, um ihre Vorlieben kennenzulernen, spazieren zu gehen, ihre Fragen zu beantworten, von unseren Entdeckungen zu erzählen. Alles, was man eben so macht, wenn man liebt. Möglicherweise verstehen wir dann eher, warum unser Kind laut oder frech wird, sich in eigene Welten zurückzieht, uns nicht mehr folgt, möglicherweise tut es das dann aber auch gar nicht mehr. Wenn man, wie Jesper Juul es sagt, davon ausgeht, dass Kinder mit sozialen Fähigkeiten geboren werden, verantwortlich und nicht egoistisch handeln, wenn ihre Reaktionen und Verhaltensweisen immer sinnvoll sind, dann lohnt es sich, zu überprüfen, ob wir ein Erklärungsmuster für ihr aktuelles Verhalten haben. Und ob sie nicht der Anzeiger dafür sind, was gerade mit uns geschieht.
Unter dem Motto „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr auf eure Handys schaut“ demonstrierten kürzlich in Hamburg ca. 200 Kinder, der siebenjährige Emil hatte die Demonstration organisiert. Gäbe es in Baek auch Schüler, die demonstrierend rufen würden: „Spielt mit mir, nicht mit euren Handys“? Stellen wir uns doch für einen Moment außerhalb und betrachten unseren Familienalltag nachdem wir unsere Kinder aus dem Landweghaus abgeholt haben. Haben wir in den 2-3 Stunden bis zum Abendbrotessen ein wenig ungeteilter Zeit für sie? Es scheint mir keine kühne Behauptung zu sein, dass ein neues Mitglied in viele Haushalte eingezogen ist. Es ist klein, handlich, etwas eckig, mag es, gestreichelt und angeschaut zu werden. Es bekommt zuweilen mehr davon, als die uns umgebenden Personen. Da Montessori-Materialien und digitale Spiele nicht gut vereinbar sind, ist das Handy oder auch das Schweifen in den Weiten des Internets für viele Kinder unserer Schule tabu oder zumindest zeitlich und inhaltlich klar eingegrenzt. Und so können viele von uns fasziniert beobachten, wie unsere Kinder mehr oder wenig geduldig ignorieren, was wir am Nachmittag am Computer oder Handy tun, ohne diesen Spielpartner permanent für sich selbst einzufordern.
Und möglicherweise haben wir genau deshalb den Eindruck, dass unser Handykonsum gar nicht so raumgreifend ist. Belastbare Studien zu den Auswirkungen des Medienkonsums und des Weilens in digitalen Welten auf die Entwicklung von Kindern unter 12 Jahren sind kaum vorhanden, aber noch viel weniger die Auswirkungen der alltäglichen Mediennutzung von Eltern auf die langfristige Entwicklung der Kinder.
Ein Kind wird kooperieren, solange es gesehen und gemocht wird. Wird es das nicht, wird es andere Strategien entwickeln, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Kinder dürfen und müssen Frustrationsmomente erleben, sie sollen Enttäuschungen überwinden, an Grenzen geführt werden sich anstrengen müssen. Aber nicht, um im „Wie – gestalte – ich – meinen – Familien – Alltag – möglichst – stressfrei – Spiel“ des Erwachsenen mitzuspielen, sondern um sich in gleichwürdiger Beziehung entwickeln zu können.
„Es wird oft gesagt, dass Kinder ihre Grenzen »austesten«, und es ist auch nicht verwunderlich, dass viele Pädagogen und Eltern der Meinung sind, man solle den Kindern mehr Grenzen setzen und überhaupt strenger und konsequenter in der Erziehung sein. Meiner Erfahrung nach ist es jedoch zweckmäßiger, keine »Diagnose« zu stellen, sondern den Mangel oder die Sehnsucht eines Kindes zu ergründen. Denn Kinder, die angeblich ihre Grenzen »austesten«, suchen gewissermaßen nach der wahren Persönlichkeit ihrer Eltern. Sie wollen wissen, wer ihre Eltern eigentlich sind und wofür sie stehen.“
An der Digitalisierung ist also nicht unbedingt die Gefahr einer Medien – Abhängigkeit unserer Kinder problematisch, sondern vielmehr, dass wir bereitwillig Zeitfressmaschine in unser Leben gelassen haben, die uns in Abhängigkeiten führt und in deren Konsequenz sich die Beziehung zu unseren Kindern verändert hat oder verändern wird. Wir haben dadurch eigentlich kaum einen Mehrwert, außer einer Zeitersparnis in organisatorischen Belangen. Und wir können Infos verteilen. Das birgt allerdings auch die Gefahr, dass meine WhatsApp – Gruppe Teil einer Aufregung wird, von der sie im Jahr 2000 bestenfalls in Einzelgesprächen erfahren hätte. Die Chancen zur echten Meinungsbildung sind geringer geworden, das nur nebenbei.
Nehmen wir also die Verantwortung für das, was in unserem Umfeld und mit uns geschieht in die Hand. »Es ist eine reale Herausforderung, aber gleichzeitig eine äußerst philosophische Angelegenheit, dass jeder von uns für sein eigenes Leben verantwortlich ist – für unsere Emotionen, unsere Gedanken, für unser Sein. Denn es ist erschreckend: In dem Augenblick, in dem du Verantwortung übernimmst, wirst du mit deiner elementaren Einsamkeit konfrontiert. Ich kann niemanden für mein Leben so wie ich es lebe, beschuldigen – ich kann mich zwar auf meine Kindheit beziehen und sagen, dies oder jenes hat mich sehr beeinflusst, aber ich weiß, ich kann mich damit nicht herausreden die Verantwortung für mein Leben trage ich alleine und niemand sonst!
(Zitate aus Jesper Juul, ‚Aus Erziehung wird Beziehung‘, Herder Spektrum, 2005 + Newsletter, Familylab)