Es ist nicht leicht, in diesen besonderen Zeiten einen Elternbrief zu schreiben, weil die Banalität unseres Alltags schwer mithalten kann mit dieser Ungeheuerlichkeit – mitten in Osteuropa. Die Montessoriwelt hat sich zur aktuellen Lage klar positioniert und eine gemeinsame Erklärung zum Frieden abgegeben, nachlesbar auf unserer Landweg – Homepage. Maria Montessoris Hoffnung lag bei den Kindern, das ist auf ihrem Grabstein verewigt: „Ich bitte die lieben Kinder, die alle Möglichkeiten haben, mit mir zusammen am Aufbau des Friedens in den Menschen und in der Welt zu arbeiten.“
Damit legte sie einen Teil der Verantwortung in die Hände künftiger Erzieher*innen und Lehrer*innen. „Alle Möglichkeiten“ haben Kinder dann, wenn es Raum und Rahmen dafür gibt. Eine kleine Zeitreise in unsere eigene Kindheit: Können wir von unserer Kindergarten- und Schulzeit mit Begeisterung erzählen? Haben wir uns in all unseren Möglichkeiten erlebt, durften uns anstrengen und Chancen ergreifen? Erinnern wir uns voller Freude an Spiel- und Erkenntnismomente in unserer Peergroup? Und haben wir gelernt, wie man Frieden stiftet? Je nachdem, wie dieser stille Monolog ausgeht, werden wir auf den Alltag unseres Kindes schauen. Die Überraschung kann groß sein, weil das für sie nicht ohne Reibung oder Schwierigkeiten läuft. Haben wir denn alles vergessen? Konfliktfähigkeit zu erlangen und zu Kompromisslösungen finden, war nie leicht. Das Aushandeln einer gemeinsamen Vereinbarung oder schlicht das Respektieren einer Regel, die das persönliche Agieren einschränkt, ist anstrengend. Aber wenn wir diese Anstrengungen für unsere Kinder nicht wollen, erziehen wir Egoist*innen.
Achtsamkeit und Freiheit sind Modebegriffe unserer Zeit. Regeln scheinen da nicht zu passen, denn sie klingen nach Gleichmachen, nach Untertanengeist und eben gerade nicht nach Freiheit. Montessori sagt „Freiheit und Disziplin sind zwei Seiten der gleichen Medaille“. Regeln geben Sicherheit und sind eine Orientierung, so erwächst ja echte Freiheit. Dass der Begriff Regeln dennoch Unbehagen auslöst, kann in der individuellen Biographie begründet sein. In Montessorihäusern gibt es nur wenige Regeln, diese sind allerdings verbindlich und mit den Kindern vereinbart. Wenn ein Kind Vereinbarungen nicht respektiert, dann ist es laut Maria Montessori noch nicht in seiner „Normalisation“. Noch nicht – das heißt zum Glück auch, dass es nicht chancenlos ist. Die Chance für dieses Kind ist die Entwicklung der eigenen Personalität als Teil einer Gemeinschaft. Maria Montessori beschrieb ihre Pädagogik bezogen auf eine Gruppe, auch wenn die Basis der Personalität die Individualität ist. Personalität meint also die Fähigkeit, ein „Ich“ im Zusammenleben mit anderen Menschen verwirklichen zu können. Es ist eben nicht nur eine Bildungsfrage, wie wir mit gesellschaftlichen Vereinbarungen umgehen, wie wir sie in unseren Familien und Freundeskreisen diskutieren, ob wir Mitgefühl zeigen können. Es ist auch und vor allem eine Beziehungsfrage. Wenn wir in vertrauensvollen, sicheren Bindungen aufwachsen konnten, eine vorbereitete Umgebung vorgefunden haben, in der die Erwachsenen in unserem Umfeld eine verantwortliche Rolle als Teil einer Gemeinschaft eingenommen haben, besteht eine große Chance, dass wir „Normalisation“ erreichen konnten und dementsprechend verantwortlich agieren. Es mag jetzt überraschen, dass ausgerechnet „Normalisation“ das Ziel der Montessori-Pädagogik ist, aber es hat Logik; im Ergebnis dieses Prozesses entsteht ein großes Vertrauen in die Welt und damit auch in ihre Systeme. Und ohne Vertrauen besteht sowie keine Hoffnung.
Eine zusätzliche moderne Herausforderung, die Montessori gar nicht beschreiben konnte, liegt in der Nutzung digitaler Technik. Sie ist nicht nur als Material oder Ergänzung zu begreifen, digitale Technik entwickelt sich zur Begleiterin der Kinder des 21. Jahrhunderts, sie ist sozusagen „der dritte Erzieher“ neben Elternhaus und Schule. Die digitale Welt vermittelt Werte und liefert Herausforderungen. Es gibt bisher keine Studie, die das umfassend nachweist oder wirderlegt, es kann also sein, dass die Nutzung dieser Technik dazu führen könnte, dass Kinder weniger im selbstversunkenen Freispiel sind, dass sie die Polarisation der Aufmerksamkeit, den sogenannten Flow im Arbeiten, gar nicht oder nur sehr selten erleben. Und es könnte auch dazu führen, dass Dopaminausschüttungen vorrangig von Wischbewegungen und Streamingerlebnissen ausgelöst werden. Müsste es uns nicht beunruhigen, dass Kinder durch dieses neuen „Spielkameraden“ vielleicht weniger in Konfliktsituationen und Aushandlungsprozesse geraten und seltener in Situationen, in denen anständiges Verhalten gefragt ist, in denen sich Empathie herstellt? Da wir keine handfesten Studien haben, müssen wir uns auf Beobachtungen und Annahmen verlassen. Wir nehmen also an, wie sollten Kinder einerseits schützen vor dem zu frühen Gebrauch digitaler Technik, ihnen andererseits dringend Strategien und Handwerkszeug vermitteln. Wir schätzen digitale Technik, wir nutzen sie in der Grundschule. Mediennutzung ist jedoch noch keine Medienkompetenz.
Kinder brauchen neben dem kreativen und lernfördernden Einsatz einzelner Tools auch Recherche-Kompetenz. Recherchieren von Sachverhalten gehört momentan zur häufigsten Nutzung der digitalen Technik in unserer Schule. Kinder sollten langfristig Texte auf Wahrhaftigkeit prüfen und Quellenverständnis entwickeln. Dann können sie Fehlinformationen leichter enttarnen. Im momentanen Gewirr komplexer globaler Zusammenhänge und besorgniserweckender Entwicklungen werden einfache Erklärungsmuster und mythische Deutungen immer attraktiver, weil sie Antworten geben und Lösungen anbieten. Das finden natürlich auch und gerade Kinder interessant. Magie ist ihre Welt! Nicht jedes Mantra „Es könnte so, aber auch anders gewesen oder gemeint sein“ ist zwingenderweise ein Irrlicht aus der Fake-News-Bibliothek. Die Behauptung, es könnte auch anders sein, kann ja auch mal zur Tiefenrecherche anregen. Heranwachsende müssen Zielrichtungen von Behauptungen und gezielte Verwirrungen erkennen. Sonst führen Handy und Tablet-Nutzung dazu, dass Skepsis und Misstrauen gegenüber Institutionen und Expert*innen verstärkt werden oder völlig unentwickelt bleiben. Im Ergebnis traut das Kind nur noch sich selbst. Und nein, das meinen wir eben gerade nicht, wenn wir von Selbstvertrauen und Eigenständigkeit reden!
Unsere Kinder sollten im geschützten Rahmen lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und sich anständig benehmen. „Benehmenkönnen“ hat etwas mit Einordnung zu tun. Sie brauchen dafür Erwachsene, die sie in die Regeln des Zusammenlebens und Anstands einweisen, ohne Macht auszuspielen oder Despoten zu sein. Kinder sollten also experimentieren, ausprobieren und Fehler machen, Lösungen erarbeiten. Aber auch Kompromisse aushalten, auch mal keine befriedigende Lösung haben. So haben sie eine Chance nachzuvollziehen, dass es Expert*innen für Themenbereiche gibt und dass es gerade für komplexe Themen nur sehr wenige Expert*innen gibt. Ja, das alles geht auch digital und sie sollten Zugang haben zum Weltwissen, niemand will sie von der Welt fernhalten. Aber auf dem Weg hinein in die Welt sollten sie von uns an die Hand genommen werden, weil sie sonst darin verloren gehen. Wer niemanden hat und niemandem traut, läuft (Troll-)Armeen hinterher, weil das eine andere Form der Ermächtigung ist und das Handwerkszeug fehlt, um sie zu enttarnen.
Bestenfalls erweisen wir uns als Beobachter*innen einer Hoffnung weckenden neuen Generation und als würdige Nachfolger*innen der großen Friedenspädagogin Maria Montessori. Schlimmstenfalls hatte er recht, welcher Nicht-Einstein auch immer das gesagt hat: „Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem die Technologie unsere Menschlichkeit übertrifft. Auf der Welt wird es nur noch eine Generation von Idioten geben.“