Die Montessori-Pädagogik basiert auf den Beobachtungen und Erkenntnissen, die Maria Montessori Ende des 19. Jahrhunderts als Assistentin in der Psychiatrie sammelte. Sie spezialisierte sich auf Kinderheilkunde, insbesondere die Integration von geistig beeinträchtigten Kindern. Weitere praktische Impulse erhielt sie durch ihre Arbeit im 1907 eröffneten Kinderhaus „Casa dei Bambini“. Bereits 1903 betonte sie in einem Vortrag an der Universität Rom, dass es darum gehen muss, die Erfahrungen der Menschheit zu sammeln und in die Pädagogik zu übertragen. Alles, was sie uns an Schriften und Beobachtungen hinterlassen hat, lässt sich auf ihren anthropologischen Ansatz zurückführen. Dieser kann wichtig werden, wenn wir ihre Beschreibung der Selbstentwicklung des Kindes mit den heutigen Erkenntnissen der Lernforschung und den Herausforderungen der modernen Gesellschaft in Beziehung setzen.
In ihren frühen Schriften konzentrierte sie sich hauptsächlich auf die ersten Entwicklungsjahre des Kindes und beschrieb, dass es die schöpferische Mission des Kindes ist, eine sittliche Persönlichkeit zu formen (42) und sich selbst zu vervollkommnen. In einem 1935 veröffentlichten Text bezeichnet sie das Kind als Geschöpf Gottes und betont: „Wir dürfen nicht nur das Kind sehen, sondern Gott in ihm“ (103). Wir überlassen es dem „intellektuellen Material“ und der Umgebung, das Kind in seiner Arbeit zu leiten (41). Ein entscheidender Moment für ihre weiteren Studien war die Beobachtung eines tief versunkenen Konzentrationszustands bei einem dreijährigen Mädchen, das mit von ihr entwickeltem Material arbeitete. Dies inspirierte sie zur Formulierung der „Polarisation der Aufmerksamkeit“, das sie als Offenbarung der Seele beschrieb. Im Grunde genommen war dieser Zustand das Ziel ihrer Pädagogik, und von da an strebte sie danach, Momente der Konzentration zu ermöglichen, um das Kind als „Baumeister des Menschen“ zu unterstützen (67). Die Grundlage des kindlichen Wissens sollte durch konzentrierte Arbeit mit dem Material geschaffen werden. Dafür formulierte sie verschiedene Voraussetzungen, insbesondere die Bedeutung einer vorbereiteten Umgebung. Sie erwartete von den Erziehenden, dass sie wissenschaftlich geschult sind, aber zugleich die Grenzen der Wissenschaft erkennen. Erziehende sollten „gleichzeitig positiv, wissenschaftlich und geistig sein“ sein (60). Sie sollten nicht eingreifen, aber gleichzeitig unermüdlich versuchen, denjenigen Kindern Gegenstände anzubieten, die sie zuvor abgelehnt hatten und Unterstützung für diejenigen bieten, die noch nicht verstanden hatten (123).
Was bedeutet das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Fundiertheit und überkonfessioneller Spiritualität in den Texten von Maria Montessori und wie wirken sich die teilweise widersprüchlichen Handlungsanweisungen auf die heutigen Praxis aus?
Im Vertrauen darauf, dass das Kind sich ganz als Baumeister seines Selbst entwickelt, hat sie uns den Auftrag mitgegeben, die Umgebung entsprechend der Entwicklungsphasen eines Kindes vorzubereiten und es in seiner Entwicklung zu begleiten. Das ist für die Kindergarten-Praxis ein Meilenstein. Bis heute darf diese dem Kind übertragene Autonomie als Seltenheit gesehen werden, denn immer noch scheint es üblich zu sein, dem Kind Tätigkeiten abzunehmen, die es eigentlich allein erledigen kann und für seine Entfaltung auch sollte. Tatsächlich ermöglicht diese vorbereitete Umgebung eine ruhige und forschende Atmosphäre in unseren Kinderhäusern. Und führt dazu, dass Kinder bereits in den entscheidenden Entwicklungsphasen in Kontakt kommen mit Kulturtechniken, wie Schrift und mathematischen Gesetzen. Darüber hinaus können sie Persönlichkeitsmerkmale entwickeln, wie Geduld und Anstrengungsbereitschaft, welche nachhaltig die Lern- und Leistungsfähigkeit beeinflussen können. Hinzu kommt, dass Eltern durch den konsequenten Austausch über das Kind, aktuelle Entwicklungen in der Kindererziehung verfolgen und so ihr Kind auch vor den Nachteilen der modernen Welt, wie zu frühem Medienkonsum, schützen.
Maria Montessoris großartige Hinterlassenschaft für unsere Grundschulen besteht darin, dass sie durch ihre eigenen Beobachtungen und des Studiums der Schriften von Pädagoge:innen, wie zum Beispiel Séguin, ein Materialkonzept entwickelt hat, das Kindern ein anschauliches und aufbauendes Verständnis der Mathematik ermöglicht. Durch die Isolierung von Eigenschaften und eine Fehlerkontrolle wird das selbstentdeckende Lernen ermöglicht. Montessoris Mission, das starre Unterrichtssystem des 18. Jahrhunderts aufzulösen, ein Schulsystem, das darauf ausgerichtet war, Kinder für den Dienst in der Industrie vorzubereiten, ist bis heute beachtenswert. Das Konzept der Kosmischen Erziehung, das über den Schulalltag hinausgeht, betont die Verantwortung der Schule für eine umfassende Bildung und kann heute mit der Diskussion über Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in Verbindung gebracht werden. Darüber hinaus formulierte sie durch den Einsatz mobiler Möbel und offener Regale einen auch heute noch tragfähigen Ansatz zur Innenarchitektur von moderner Bildungseinrichtungen.
Die von ihr beschriebene Haltung der Lehrkraft und ihre Bedeutung für die Entwicklung eines einzelnen Kindes wurde auch in modernen Studien nachgewiesen, wobei wir spätestens seit der Hattie- Studie wissen, dass es nicht reicht, wenn eine Lehrkraft lediglich als Moderator:in agiert. Sie beschreibt unsere Arbeit als eine „Verteidigung des Kindes“, als „Mittel, sie von der Unterdrückung durch alte Vorurteile über die Erziehung zu befreien“ (138). Konsequent zu Ende gedacht, wäre das eine Instrumentalisierung des Kindes. Daher müssen wir die modernen Erkenntnisse und Herausforderungen für die Umsetzung der Montessori-Praxis weiter diskutieren, da sie im Grunde keine Didaktik hinterlassen hat. In der europäischen Schulpraxis führt das dazu, dass wir verschiedene Umsetzungsformen sehen. Wir kennen Montessori-Schulen, in denen Kinder an Einzelplätzen sitzen und in größter Stille mit Materialien arbeiten, während an anderen Schulen das Material in den Regalen verstaubt oder als Ersatz für Taschenrechner verwendet wird. Es gibt Schulen, die sich für gebundene Unterrichtssituationen entscheiden, obwohl Montessori ausdrücklich festhielt, dass es weder im Kinderhaus noch in der Schule „Kollektivunterricht“ (47) geben sollte. In anderen Schulen sehen wir lediglich, wie Kinder Materialpräsentationen nach eigenen Interessen besuchen.
Es bleibt die Frage, ob die Kernmerkmale für zeitgemäßen Unterricht für eine Montessori-Schule nicht gelten oder ob der Qualitätsrahmen, den der Bundesverband Montessori zur Umsetzung der Montessori-Pädagogik entwickelt hat, bereits einen Hinweis auf guten Unterricht liefert. Aufgrund des anthroposophischen Ansatzes der Montessori-Pädagogik ist schon allein die Verwendung des Begriffs „Unterricht“ untypisch. Ein göttliches Wesen vervollkommnet sich selbst und braucht dafür keine Unterrichtung – wir begleiten stattdessen. Ob moderne Montessori-Pädagog:innen diesen Ansatz kritisch hinterfragen, hängt von deren Wissen über moderne Bildungsforschung und ihrer Bereitschaft zum Diskurs ab. Die Chancen des überregionalen Austausches durch die Entdeckung digitaler Kommunikationsformen hat in jedem Fall eine Auseinandersetzung der unterschiedlichen Praxisumsetzungen ermöglicht, der bis dahin einfach nicht stattfand.
Als gesichert kann gelten, dass jede pädagogische Einrichtung, die ihr pädagogisches Handeln auf die Unterstützung des Kindes ausrichtet und kontinuierlich mit modernen Methoden hinterfragt und verbessert, eine gute Chance hat, Kinder zu stärken und auf die Herausforderungen der Zeit vorzubereiten.
(Sämtliche Textverweise sind den „Grundgedanken der Montessori Pädagogik“, Quellentexte und Berichte, Herder 2017 entnommen)
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